Wir leben in Zeiten, die uns einiges Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb fragen wir in der Serie "Worüber denken Sie gerade nach?" führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Stimmen des öffentlichen Lebens, was sie gegenwärtig bedenkenswert finden. Die Fragen stellen Maja Beckers, Andrea Böhm, Christiane Grefe, Nils Markwardt, Peter Neumann, Elisabeth von Thadden, Lars Weisbrod oder Xifan Yang. Heute antwortet der Theologe Jörg Lauster.

ZEIT ONLINE: Jörg Lauster, worüber denken Sie gerade nach?

Jörg Lauster: Mich beschäftigt, dass die Religion – entgegen der öffentlichen Wahrnehmung – in den Wissenschaften hoch im Kurs steht. Und als Theologe interessiert mich, wie wir damit umgehen können.

Jörg Lauster ist Professor für Systematische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuletzt erschien von ihm *Der Heilige Geist – Eine Biografie* (C.H. Beck, 2021) sowie *Das Christentum – Geschichte, Lebensformen, Kultur* (C.H. Beck, 2022). © privat

ZEIT ONLINE: Inwiefern steht die Religion wissenschaftlich hoch im Kurs?

Lauster: Von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre hat jeder, der in den Geisteswissenschaften etwas auf sich hielt, die Finger von Religion gelassen. Sie galt schlicht als Auslaufmodell. Doch in den letzten Jahrzehnten musste man feststellen: Die Religion ist global gesehen nicht totzukriegen. Das hat viele Intellektuelle zum Nachdenken bewogen. Etwa Jürgen Habermas, der in der Religion "semantische Potenziale" erkennt. Oder auch der französische Philosoph François Jullien, der sie als "Ressource" begreift. Ähnliche Überlegungen finden sich beim englischen Denker Tim Crane, der als Atheist ein Buch über die Bedeutung des Glaubens geschrieben hat. Kurzum: Seit einer Generation gibt es eine Reihe von europäischen Intellektuellen, die selbst gar nicht unbedingt gläubig sind, aber Religion als festen Bestandteil des menschlichen Lebens begreifen.

ZEIT ONLINE: Und worin genau sehen Habermas, Jullien oder Crane diesen Bestandteil?

Lauster: Die Argumentationen sind jeweils sehr unterschiedlich, aber die Schlussfolgerungen ähneln sich: Die Religion spielt eine herausragende Rolle dabei, Menschen Sinnstiftung, Orientierung und Trost zu gewähren. Dementsprechend geht es auch gar nicht mehr um die Frage, ob es Gott gibt oder nicht. Die Existenz Gottes ist ebenso wenig zu beweisen wie ihr Gegenteil. In den neuen Debatten wird Religion als essenzieller Sinnstiftungsfaktor begriffen, von dem am Ende auch Gesellschaften als Ganze profitieren.

ZEIT ONLINE: Nun sind die Kirchenaustritte hierzulande gerade auf einem Rekordhoch. Der Theologe Peter Dabrock sprach deshalb jüngst davon, dass der politische und zivilgesellschaftliche Resonanzraum der Kirchen immer kleiner werde. Der Religionssoziologe Detlef Pollack diagnostiziert ebenfalls einen starken Bedeutungsverlust der Kirchen. Widersprechen Sie?

Lauster: Die Kollegen haben natürlich recht, denn der Einfluss der Kirche schwindet. Doch Kirche und Religion sind nicht dasselbe. Das institutionell verfasste Christentum hat große Probleme, aber wenn man Habermas, Jullien, Crane und vielen anderen folgt, spielt Religion als geistige Ressource und intellektuelle Kraft immer noch eine große Rolle.

ZEIT ONLINE: Und wie konkret?

Lauster: Nimmt man das Beispiel des Christentums, so hebt dieses auf ein Lebensgefühl ab, das besagt: Es gibt etwas, das diese Welt hält und trägt – und das ist größer als du. Diese größere Kraft, im Christentum nennen wir sie Gott, verändert unsere Sicht auf drei Ebenen. Sie verändert das Verhältnis zu uns selbst, das Verhältnis zu anderen und auch das Verhältnis zur Welt.

ZEIT ONLINE: Inwiefern verändert es das Selbstbild?  

Lauster: Die christliche Botschaft aller Konfessionen lässt sich auf einen Punkt bringen: Du musst nicht, du darfst. In allem, was wir tun und wollen, sind wir schon immer von einer geheimnisvollen Kraft getragen, die größer ist als wir selbst. Das verändert unser Selbstverhältnis. Wir sind nicht allein die Schmiede unseres Glückes, sondern stets schon angenommen. Der Theologe Paul Tillich sprach von dem "großen Ja", das über unserem Leben liegt. Das entlastet von den krampfhaften Kämpfen um Anerkennung.

ZEIT ONLINE: Und wie verändert es unser Verhältnis zu anderen?   

Lauster: Das, was mich trägt, erkenne ich auch in anderen Menschen. In ihnen kann das Göttliche aufscheinen, das auch mein Leben hält, aber in anderen schimmert es je anders durch. Kein Mensch kann für sich allein verwirklichen, was es heißt, Mensch zu sein. Das Geheimnis des Menschen leuchtet erst in der Vielzahl der menschlichen Leben auf. Die frühen Christen, so liest man es in der Apostelgeschichte, haben dieses Verhältnis zu anderen zum Gradmesser der Frage gemacht, ob man von Gott ergriffen ist. Und das sagt im Prinzip: Wenn mein Verhältnis zum anderen nicht klappt, stimmt etwas mit meiner Religion nicht.

ZEIT ONLINE: Kann das Christentum diese Botschaft angesichts der Missbrauchsskandale der Kirchen noch glaubhaft vermitteln?

Lauster: Wenn jemand in 200 Jahren eine Geschichte des Christentums in Europa schreibt, wird man sicher sagen müssen, dass der Missbrauchsskandal eine der größten Krisen des westlichen Christentums überhaupt ist. Es ist ein immenser Vertrauensverlust in das, was Kirche eigentlich sein soll: ein konkurrenzfreies und vertrauensvolles Miteinander, in dem Menschen aufgehoben sind. Immerhin hat der Protestantismus im Reformationszeitalter eingesehen, dass auch die Kirche, um das schwere theologische Wort hier zu bemühen, eine Sünderin ist. Leider können auch die Menschen, die die Kirche ausmachen, Schlimmes tun. Die entscheidende Frage ist, wie man damit umgeht. In den Missbrauchsfällen kommt es darauf an, mit Schuldeingeständnissen und Transparenz den bestmöglichen Umgang mit diesem großen Unglück zu finden. Diese Aufarbeitung ist in Gang, in Teilen gelingt sie auch. Dennoch steht noch immer der Eindruck im Raum, dass hier Verschleppungs- und Verschleierungsprozesse stattfinden. Das ist für die Opfer sehr traurig und für die Kirche als Institution lebensgefährlich.