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Paula-Irene Villa Braslavsky "Frau sein hieß lange auch Trophäe sein"

Paula-Irene Villa Braslavsky: Gender-Expertin
© Joseph Heckes
Ob auf der Straße oder in der Bar: Sexismus ist noch viel zu oft unser Alltag. Wir haben mit Deutschlands bekanntester Gender-Expertin, der Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky, darüber gesprochen, wie sich das ändern könnte.

BRIGITTE: Frau Prof. Dr. Villa Braslavsky, haben Sie sich nach dem Rammstein-Skandal auch gefragt: Sind wir denn immer noch nicht weiter?

VILLA BRASLAVSKY: Nein, habe ich nicht. Wenn wie zuletzt viel über Sexismus, Übergriffigkeiten und unangemessene Sexualisierungen geredet wird, spricht das in meinen Augen eher dafür, dass sich die Aufmerksamkeit, die sich auf solche Vorfälle richtet, durchaus ändert, auch durch #MeToo: Aus einem offenen, aber sehr gut gehüteten Geheimnis, einem "So ist es halt", wird ein "Das ist nicht okay".

Das klingt nach einer guten Nachricht.

Ich teile aber auch manchen Frust, weil einfach so vieles ans Licht kommt, das zeigt, wie selbstverständlich Weiblichkeit nach wie vor damit verbunden ist, gefährdet und schutzbedürftig zu sein: Pass auf deinen Drink auf, wähl die Absätze nicht zu hoch, den Ausschnitt nicht zu tief …

Und wenn etwas passiert, heißt es sofort: "Soll sie sich halt nicht sowas Kurzes anziehen!"

Egal, welche Kleidung sie trägt, für jede Person muss es in jedem Moment immer möglich sein, zu sagen: Nein, das will ich nicht, das will ich nicht mehr, das will ich so nicht. Keine Kleidung, kein Körper rechtfertigt Gewalt, Übergriffigkeit, Demütigung.

Sie sind Mutter einer 16-jährigen Tochter, haben Sie mit ihr über „Row Zero“ geredet?

Mit ihr und mit ihren Mitschülerinnen, ich war letztens in ihrer Schule zu Gast – eigentlich zu einem anderen Thema. Da war das dann aber ein riesiges Thema. Diese jungen Frauen konnten überhaupt nicht verstehen, dass Konzerte nicht abgesagt wurden, weibliche Fans trotz allem weiter mit Band-T-Shirts rumlaufen. Ganz schlimm fanden sie das, extrem empört waren sie.

Zu Recht, oder?

Ich frage mich dennoch, ob sie vor lauter Überzeugung die eigene Wirklichkeit umfassend sehen.

Wie meinen Sie das?

Ob sie andere Formen von Sexismus und sexueller Übergriffigkeit in ihrem Alltag genauso erkennen, verurteilen und sich nicht darauf einlassen würden, wenn sie selbst involviert sind. Deren Empörung hatte einen starken Zeigefinger, es waren "die da".

An welche Formen denken Sie da?

Damit meine ich all diese Schattierungen und Nuancen zwischen Flirten, Anmachen, Sex haben in allen Varianten … Das ist eine riesige Grauzone. Und am Ende steht zum Beispiel ein "Boah, ich weiß nicht mehr genau, was dann war, zu viel getrunken …" Denn einerseits geht es ja genau darum, etwas auszuprobieren, sich auf etwas einzulassen und Grenzen immer weiter auszuloten – was es dann besonders schwierig macht, eigene Grenzen als solche zu erkennen und abzustecken. Und andererseits steht da der Anspruch, es immer vorher genau zu wissen und souverän zu sein.

Warum tun wir uns da so schwer?

Es geht darum, meine Bedürfnisse – was will ich, worauf hab ich Lust – mindestens genauso ernst zu nehmen wie die der anderen Person, und damit meine ich vor allem Männer. Eine junge Frau wächst aber heute immer noch strukturell mit der Botschaft auf: SEINE Bedürfnisse sind wichtiger als meine.

Und wenn ich sie nicht befriedige, werde ich für verklemmt oder falsch gehalten. Warum wirken diese Rollenbilder weiter so stark?

Das ist die 30-Millionen-Dollar-Frage. Historisch gesehen hieß Frau sein lange vor allem auch "Trophäe von" sein. Zwar haben sich Heiratsmärkte deutlich geändert, aber Frauen und weiblich gelesene Personen werden noch stark danach bewertet, ob sie diese gute Trophäe wären – für Männer, die besonders "männlich" sind, also ehrgeizig und erfolgreich, finanzkräftig, öffentlich präsent …

Was als weiblich gilt, hat sich im Laufe der Zeit aber doch durchaus auch verändert.

Sicher, und interessanterweise verhalten sich Frauen heute teilweise geradezu hypermaskulin – nicht nur, aber eben auch im Nachtleben: ausgehen bis zum Exzess, saufen, pöbeln, sich prügeln, kotzen, vögeln. Motto: Ich nehm mir, was ich kann. Das wirkt auf den ersten Blick sehr frei, sehr selbstbestimmt, hat aber eine fatale Kehrseite: Ein "Nee, darauf habe ich jetzt doch keine Lust" passt da leider überhaupt nicht ins Bild – wie bei den Männern ja auch nicht.

Aus dieser Rolle findet man schwer heraus.

Dazu kommt, dass weibliche Körperlichkeit und Sexualität in unserer Gesellschaft leider sehr stark mit Scham und Schmutz verbunden sind. Aufklärung etwa wird fast immer mit Angst verbunden: Angst vor Schwangerschaft, Angst vor Gewalt, Angst vor Übergriffigkeiten …

Zeigen nicht die jüngsten Vorfälle, dass diese Angst auch begründet ist?

Ich finde, es ist der falsche Weg zu sagen: Wir müssen diese armen jungen Frauen schützen, sie sind so schwach. Nein, wir müssen sie ermächtigen! Ihnen zeigen und versichern, dass Sexualität spielerisch, lustvoll und selbstbewusst sein darf. Dass die eigenen Bedürfnisse zählen. Aber wir haben bis jetzt viel zu wenig über Jungen und Männer gesprochen.

Warum?

Es sollte nicht vorrangig die Aufgabe von uns Müttern, Schwestern, Töchtern, Tanten oder Freundinnen sein, zu schauen, wie wir uns am besten durch den Alltag und durchs Nachtleben navigieren. Uns zu überlegen, welche Codes man an der Theke sagen könnte, um sicher in ein Taxi nach Hause steigen zu können. Oder zu lernen, wie man K.-o.-Tropfen in einem Getränk erkennt. Ob Row Zero, #MeToo an den Unis oder Catcalling auf der Straße:Jede dritte Frau hat irgendeine Form von sexualisierter Gewalt und Übergriffigkeit erlebt. Es sind Männer und Jungs, die sich da falsch verhalten, die verantwortlich sind – und die umdenken müssen. Genau damit sollen wir sie permanent konfrontieren.

Machen Sie das bei Ihrem 22-jährigen Sohn?

Bei unseren Söhnen fängt das tatsächlich an. Ihnen können wir sagen: Nein, du musst nicht der tolle Hengst sein, auch nicht der coole Checker, der immer weiß, wo es langgeht. Du musst gar nichts. Außer darauf achten, dass das, was du machst, zu jeder Zeit für alle Beteiligten passt. Und wenn du mal unsicher bist, ob es passt, darfst und sollst du fragen: Hey, alles okay?

Das würde viel Verantwortung von den Frauen nehmen.

Und den Jungs den Druck und den Stress nehmen, sie zugleich in ihrer Verantwortung ernst nehmen. Denn auch sie glauben ja, bestimmten Normen entsprechen zu müssen, stark, hart sein zu müssen. Auch sie gehen über ihre Grenzen – und über die anderer. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir verstehen, dass wir die öffentliche Kriegszone nur gemeinsam befrieden können. Und dass die Männer dazu extrem viel mehr beitragen müssen als bislang.

Bis zu diesem Frieden scheint es aber noch ein recht weiter Weg zu sein.

Ich glaube, wir suchen oft zu schnell eine Lösung. Weil wir das, was wir vielleicht selbst erlebt haben, unseren Töchtern ersparen wollen – dabei aber übersehen, dass jede Generation ihre eigenen Diskussionen führen muss. Und wenn ich sehe, wie lebendig das gerade zum Beispiel im Netz passiert, unter digitalen Aktivist:innen, finde ich das großartig. Wenn wir diesen Stimmen, die sich da zu Wort melden, wirklich zuhören, uns auf die Vielfalt ihrer Perspektiven einlassen, könnten wir alle eine Menge lernen. Vielleicht müssen wir gar keine schnelle Lösung finden. Aber wir müssen sie suchen wollen: zusammen.

Brigitte

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