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„Kafkas Texte verlocken permanent“

18.03.2024

Warum es sich lohnt, Kafka zu lesen, und was den Autor ausmacht: ein Interview mit Literaturwissenschaftler Oliver Jahraus.

Vor 100 Jahren, am 3. Juni 1924, ist Franz Kafka im Alter von nur 40 Jahren gestorben. Ein Interview mit Oliver Jahraus, Professor für Neuere deutsche Literatur und Medien an der LMU.

„Als Gregor Samsa eines morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ Mit diesem Satz beginnt Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“. Wie finden Sie als Literaturwissenschaftler diesen Einstieg?

Oliver Jahraus: Das ist einer der ganz grandiosen Textanfänge der Weltliteratur. Es kommt dieses Signalwort darin vor: „Ungeziefer“. Da ist auf der einen Seite die Fantasie gefragt – wie muss man sich das vorstellen: Ein Mensch verwandelt sich in ein Ungeziefer? Aber das Wort Ungeziefer, das merkt der Lesende sehr schnell, hat auch eine soziale Komponente: Es ist eine drastische Herabsetzung, ein ganz böses Schimpfwort, das offensichtlich in dieser Familie eine Rolle spielt. Und damit öffnet sich die nächste Perspektive auf die Frage, wie die Figuren damit umgehen und warum ein Familienmitglied sich plötzlich so verwandelt. Man merkt an diesem Satz auch, was für ein beeindruckender Erzähler Franz Kafka war. Hat man den ersten Satz gelesen, kommt man von dieser Geschichte nicht mehr los.

Die erste Seite des Originalmanuskripts des Romans „Der Prozess von Franz Kafka.

Die erste Seite des Originalmanuskripts des Romans „Der Prozess" von Franz Kafka.

„Wir dürfen nicht bei der Vorstellung stehen bleiben ,Kafka schreibt tolle Texte‘“, sagt Oliver Jahraus. „Für Kafka war noch etwas Zweites sehr wichtig: das Schreiben selbst.“

© picture-alliance/ dpa | Marijan Murat

Kafka: Erzähler und Diagnostiker

Kafka ist vor 100 Jahren gestorben. Warum lohnt es, ihn heute zu lesen?

Es gibt mehrere Gründe. Wenn wir die Literaturgeschichte betrachten, können wir Kafka durchaus in seine Zeit einordnen. Aber diese Einordnung geht nie ganz auf. Kafka war bestens informiert, hat viele Literaturzeitschriften gelesen. Man kann sagen: Der Expressionismus war vorherrschend und es gibt Verbindungslinien zwischen Kafka und seinem literarischen Umfeld. Aber: Bei Kafka ist noch mehr da. Das ist die Art und Weise, wie er erzählt. Und das sind die Themen, die er setzt: Themen, in denen die Moderne ihre neuralgischen Punkte ausprägt. Zum Beispiel Macht in einem sozialen Gefüge und die Frage nach der Anerkennung des Individuums durch sein Umfeld und die Gesellschaft.

Das ist auch ein religiöses Thema: Gibt uns die Religion – in Kafkas Fall: Judentum, zu dem er ein schwieriges, aber intensives Verhältnis hatte – Antworten auf die Frage nach der Anerkennung des Menschen? Kafka weist weit über seine Zeit hinaus und benennt Problemfelder der Moderne, die jenseits aller Diskurse über Postmoderne und Postpostmoderne immer noch relevant sind.

Warum ist das gerade Kafka gelungen?

Die Moderne ist gekennzeichnet durch ein besonderes Maß gesellschaftlicher Komplexität. Wie kann man diese begreifen, wie sie erfahren? Die Selbstreflexion der Moderne nimmt breiten Raum ein um 1900 in den intellektuellen Zirkeln in London, Paris, Berlin, aber auch in München, und natürlich auch in Wien. Wien ist ein wichtiger Bezugspunkt für Kafka, wirkt sich aber auch aus auf Prag, eine wichtige Kulturstadt in dem damaligen K.-u.-k-Reich (die österreichisch-ungarische Donaumonarchie). Aber all diese Beschreibungen werden der Komplexität der Welt nicht gerecht. Und da setzt nun Kafka ein, weil er eine ganz eigene Art findet, solche Problemfelder in Geschichten zu transformieren. Es sind immer die beiden Aspekte: Er ist ein Erzähler, das narrative Element ist ganz wichtig, und er ist auch ein Diagnostiker. Und beide Aspekte verbindet er in seinen Texten.

Kafkas Leben

Was muss man über Kafkas Leben wissen, um diese diagnostische Fähigkeit zu verstehen?

Vielleicht ist Kafka von seiner Lebenssituation her dafür prädestiniert. Er kommt aus einer jüdischen Familie, die diesen Assimilationsweg zurückgelegt hat, der gar nicht so einfach ist – wenn ich das schlagwortartig sagen darf –, vom Ostjudentum, das noch stark in lange tradierte Vorstellungen, Rituale, Überzeugungen eingebunden ist, hin zu einem Westjudentum, das stark von Assimilation geprägt ist. Normalerweise würde man eine Annäherung an die Mehrheitsgesellschaft erwarten, also an die tschechische Bevölkerung; im Falle von Kafka und Kafkas Familie ist es aber die Angleichung an die kulturell bedeutsame Schicht, die ihrerseits eine Minderheit ist, und das sind die Deutschen. Das hängt natürlich mit dem dominant deutschsprachigen Charakter der K.-u.-k-Monarchie zusammen. Und daraus resultieren die unterschiedlichsten Verwerfungen.

Kafka gehört als deutsch schreibender Autor den Deutschen an, als jüdischer Autor aber wiederum gerade nicht. Der jüdischen Gemeinschaft gehört er auch nicht vollständig an, weil er viele jüdische Traditionen hinter sich gelassen hat, aber sich später doch vom Judentum eine Selbstvergewisserung erwartet. All das zusammen ist schon hochgradig symptomatisch für das Moderne an Kafka und für das Problembewusstsein der Moderne, das Kafka hat.

Kafkas klarer Blick auf Bürokratie

Franz Kafka steht vor seinem Elternhaus in Prag.

Franz Kafka vor seinem Elternhaus in Prag

Kafka war Jurist und Beamter. Seine literarischen Texte schrieb er in seiner Freizeit. | © IMAGO / agefotostock / Universal Images Group Sovfoto / UIG

Kafkas Texte sind teilweise sehr düster, auch brutal. Aus heutiger Sicht könnte man meinen, sie nehmen Schrecken und Gewalt von Kriegen und Holocaust vorweg. Ist das so?

Da wäre ich sehr vorsichtig. Welches ungeheure Ausmaß an Kulturbruch die Nationalsozialisten mit dem Holocaust über die Welt gebracht haben, konnte Kafka nicht vorausahnen. Aber er hatte ein anderes Gespür: Dass die Moderne so etwas wie eine Schattenseite mit sich bringt. Wenn wir uns das mit Kafka ansehen, beginnt es, noch relativ harmlos, damit, dass die Moderne mit einer immensen Bürokratisierung einhergeht. Das ist ja zunächst nicht schlimm und etwas, das Gerechtigkeit schaffen könnte, weil alles nach derselben Form beurteilt wird. Aber wenn sich solche Bürokratien plötzlich sich selbst zuwenden und Selbstläufer werden, bilden sie sozusagen eine Meta-Bürokratie heraus, die gar nicht mehr weiß, wozu sie eigentlich da ist.

Wie greift das Kafka zum Beispiel auf?

Etwa in dem Roman „Das Schloss“: Wenn man sich vorstellt, da ist ein kleines Dorf, in dem die Menschen leben, und darüber thront ein gigantisches Schloss als Behörde, in der es viele einzelne Kanzleien gibt, die wiederum untergliedert sind in unterschiedliche Hierarchiestufen, die Berge von Akten produzieren. Da fragt man sich: Was verwaltet diese gigantische Schlossbürokratie bei diesem kleinen Dorf, für das sie zuständig ist?

Liest man es etwas distanzierter, ist es ein klarer Blick auf Bürokratie und bürokratische Entscheidungen. Und dann kommen Momente von Gewalt mit hinein. Sie ist nicht nur dysfunktional, sondern zugleich erotisch aufgeladen. Es ist ein Spiel des Sado-Masochismus. Am deutlichsten ist es in der Geschichte „Die Strafkolonie“, wo ein Folterverfahren als Teil eines Strafverfahrens mit allen grausamen Details beschrieben wird.

Die Verbindung zwischen einer enthemmten Lust an der Gewalt auf der einen und der Bürokratie auf der anderen Seite lässt erahnen, welches negative Potenzial in diesen Modernisierungsprozessen steckt.

Konnte Kafka die Schattenseite der Bürokratie so klar sehen, weil er selbst Jurist war?

Das würde ich ganz grundsätzlich bejahen. Als Jurist hatte er Einblick in das Verwaltungshandeln und in die Bürokratie mit ihren Hierarchien, Zuständigkeiten, Akten, Bescheiden – und ihrer Handhabung von Grausamkeit. Er saß an der entscheidenden Stelle, hat immer wieder Berichte lesen und schreiben müssen, wo Menschen durch Arbeitsunfälle grausame Schicksale erlitten haben. Er hat sich in seiner Position darum gekümmert, die Strukturen zu verbessern, um Versicherungsunfälle zu verringern für diese große halbstaatliche Institution der Arbeiter-Unfall-Versicherung, für die er gearbeitet hat. Er hatte Einblick in die Gewalt des Lebens und die bürokratische Befassung damit.

Gruppenbild mit Franz Kafka vor einer Bergkulisse.

Franz Kafka (sitzend rechts) mit Gästen und Mitarbeitern des Sanatoriums Tatranské-Matliary

Kafka war lungenkrank, litt an Tuberkulose.

© picture alliance / akg-images / Archiv K. Wagenbach | / Archiv K. Wagenbach

Kafka als Freund und Weggefährte

Kafka selbst wird von Freundinnen und Freunden als sanft, gut, wahrheitsliebend und schüchtern bezeichnet. Wie passt das zu seinen Texten?

Es gibt ein Zitat von Kafka, das der Schriftsteller Louis Begley als Buchtitel verwendet hat: „Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe“. Kafka war im unmittelbaren Umgang extrem konziliant. Diese mythische Vorstellung von Kafka als Einzelgänger, um den alles dunkel ist, stimmt nicht. Kafka war ein Mensch, der Freude am Leben gehabt hat, der sozial wunderbar eingebettet war, der viele Freunde hatte. Und der auch diesen einen Freund hatte, der lange über seinen, Kafkas, Tod hinaus zu ihm gehalten hat: Max Brod. Kafka war zudem auch ein Womanizer. Er konnte Kontakt zu Frauen knüpfen und hat diesen dann relativ schnell auf ein Gebiet verlagert, wo er die Situation perfekt beherrschen konnte, nämlich auf das Gebiet des Schreibens und des Briefes.

Aber Kafka hatte schon immer diesen Blick in die Welt – und da ist ihm das Monströse aufgegangen. Das war die Triebfeder seines Schreibens. Es gibt also den netten Kafka, es gibt den Kafka mit seinen monströsen Fantasien und es gibt noch den schwierigen Kafka. Er war schon ein schwieriger Mensch. Das zeigt das böse Spiel, das er – im Zeichen von Verliebtheit – mit seiner Verlobten Felice Bauer getrieben hat. Er hat Felice Bauer gebraucht. Aber nicht als Frau, sondern als Brief-Adressatin. Als Verlobte hat er sie böse hingehalten. Aber seine Briefe an sie sind ein eigenes Meisterwerk Kafkas.

Briefumschlag, adressiert an Max Brod

Brief an Max Brod

Kafka und Brod lernten sich während Kafkas Studium kennen und waren lebenslang befreundet. | © picture alliance / dpa | Daniel Bockwoldt

Welche Rolle spielte die Freundschaft zu Max Brod für sein Werk?

Dass er diesen Freund hatte – das ist schon unglaublich in vielerlei Hinsicht. Max Brod und Franz Kafka sind ein Leben lang miteinander verbunden. Das dokumentieren auch die Briefe, die sie sich schreiben, obwohl sie sich laufend sehen.

Als Kafka fühlt, dass sein Tod naht, schreibt er zwei Testamente. Er bestimmt, dass alles, was er geschrieben hat, vernichtet werden soll von Max Brod. Aber Max Brod ist der einzige Mensch, von dem Kafka sicher weiß, dass er diesen Auftrag nicht erfüllen wird.

Max Brod ist ja selber Schriftsteller. Aber er stellt seine gesamte Existenz in den Schatten von Franz Kafka, bemüht sich, ihn berühmt zu machen. Kafka hatte zu Lebzeiten relativ wenig veröffentlicht. Ohne Max Brod hätten wir nicht den Kafka, den wir heute haben. Da sieht man einen Freund, der für den anderen Freund wirklich alles macht, damit dessen literarisches Erbe der Nachwelt erhalten bleibt und zugänglich wird. Ich finde das menschlich bewegend. Max Brod und Franz Kafka – das ist ein einzigartiges Beispiel von Freundschaft.

Porträt von Professor Doktor Oliver Jahraus

Professor Oliver Jahraus | © LMU

Sie haben gerade ein Buch über Kafka veröffentlicht. Was fasziniert Sie an dem Autor?

Mich fasziniert, dass man an Kafka wirklich lernen kann, was Literatur kann. Wenn man einer Person deutlich machen müsste, wozu es Literatur gibt, welche Funktion sie erfüllt und wie und wie intensiv Literatur diese Funktion erfüllen kann – was meine Aufgabe als literaturwissenschaftlicher Hochschullehrer ist – , dann würde ich einen Kafka-Text zum Lesen geben. Seine Texte verlocken uns permanent. Wir Leser fragen uns: Was soll das bedeuten? Welche Geschichte wird uns erzählt? Auf der anderen Seite aber werden wir von den Texten immer auch provoziert, weil die einfache Antwort auf diese Frage verweigert wird. Und beides zusammen: die Frage „Was soll das bedeuten?“ und die Verweigerung der Antwort halten sich bei Kafka wunderbar die Waage.

Oliver Jahraus ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur und Medien und Vizepräsident für den Bereich Studium an der LMU. Sein Buch „Franz Kafka“ ist bei Reclam erschienen. Als Einstieg in Kafkas Werk empfiehlt Oliver Jahraus „Die Verwandlung“, das Erste, was er selbst vor vielen Jahren von Kafka gelesen hat.

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