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Politische Ideologie Israels »Es gibt den Zionismus der Begeisterung und den Zionismus der Verzweiflung«

Kaum ein Begriff ist seit dem Massaker vom 7. Oktober so umstritten wie der des Zionismus. Der Historiker Michael Brenner erklärt, wie der Begriff zum Kern des Staates Israel wurde – und aktuell für viele zum Schimpfwort.
Ein Interview von Tobias Rapp
Demonstrant in Tel Aviv, 2023

Demonstrant in Tel Aviv, 2023

Foto: Eyal Warshavsky / SOPA Images / LightRocket / Getty Images

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SPIEGEL: Herr Brenner, das Massaker vom 7. Oktober und der erbitterte Streit über Israels Armeeeinsatz hat den Zionismus wieder ins Zentrum des Interesses geholt. Als Beschreibung, als Schimpfwort, als politischen Begriff. Was ist Zionismus genau?

Brenner: Mit dem Zionismus ist es ein bisschen wie mit dem Antisemitismus. Es ist nicht so einfach, eine Formel zu finden, auf die sich alle einigen können. Ich würde sagen: Es ist die nationale Bewegung des jüdischen Volkes, die sich zum Ziel gesetzt hat, einen Staat für die Juden zu errichten.

Zur Person

Michael Brenner, 60, ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilian Universität München. Seine »Geschichte des Zionismus« ist eine der besten Einführungen ins Thema, sein Buch »Israel – Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates« ein hervorragendes Buch über Geschichte und Gegenwart des jüdischen Staates.

SPIEGEL: Aber den Staat gibt es ja nun schon 75 Jahre.

Brenner: Viele Menschen in Israel sprechen deshalb auch vom Postzionismus. Ich würde den Begriff des Zionismus lieber erweitern: Er bedeutet heute, die Existenz dieses Staates anzuerkennen und zu bejahen. Die Anerkennung der Tatsache, dass die Juden das Recht auf einen eigenen Staat haben.

SPIEGEL: Ein explizit jüdischer Staat.

Brenner: Genau. Wobei es auch da wieder viele Meinungen gibt, was genau darunter zu verstehen ist.

SPIEGEL: Vielleicht nähern wir uns den Fragen historisch. Wie ist der Zionismus entstanden?

Brenner: Der Zionismus hatte zwei Triebkräfte: den Zionismus aus Verzweiflung und den Zionismus aus Begeisterung. Den Ersten hat Theodor Herzl im späten 19. Jahrhundert geprägt. Ein Feuilletonist aus Wien, geboren in Budapest, der eigentlich ein deutscher Schriftsteller sein wollte. Aber der immer wieder merken musste, dass er selbst als vollkommen assimilierter Jude mit Weihnachtsbaum zu Hause von den anderen Österreichern niemals als gleichwertig angesehen werden würde. Er ging als Journalist nach Paris – und wurde dort Zeuge der Dreyfus-Affäre.

SPIEGEL: Ein Justizskandal um einen französischen Offizier, der vor allem wegen seiner jüdischen Herkunft unschuldig verurteilt wurde.

»Ein Feuilletonist aus Wien, der eigentlich ein deutscher Schriftsteller sein wollte«: Theodor Herzl um 1900

»Ein Feuilletonist aus Wien, der eigentlich ein deutscher Schriftsteller sein wollte«: Theodor Herzl um 1900

Foto: United Archives International / IMAGO

Brenner: Das hat Herzl tief erschüttert. Nicht einmal im Land von Einheit, Freiheit und Brüderlichkeit, dachte er, war man vor Antisemitismus sicher.

SPIEGEL: Was war seine Reaktion?

Brenner: Herzls erste Idee war sehr naiv: Alle Juden sollen in den Wiener Stephansdom gehen und getauft werden. Aber er verstand rasch, dass es so einfach nicht ging. Der Antisemitismus war längst nicht mehr religiös motiviert, er war rassistisch geworden. Er schrieb dann das Buch »Der Judenstaat« – und kam zu jener Erkenntnis, die zentral für den Zionismus werden sollte: Die Juden sind ein Volk.

SPIEGEL: War das denn neu?

Brenner: Zumindest hatte es die überwiegende Zahl der österreichischen oder deutschen Juden so bisher nicht gesehen. Für die war die beginnende Emanzipation ein Versprechen darauf, Teil der Mehrheitsgesellschaft werden zu können. Sie glaubten, dass sie Deutsche werden könnten, die eben einen anderen Glauben haben. Herzl hatte eine andere Perspektive. Er begriff die Juden nicht mehr als Religionsgemeinschaft. Wir sind ein Volk hieß eben auch: Wir haben auch Anspruch auf einen Staat – wie jedes Volk.

SPIEGEL: Warum nennen Sie das den Zionismus der Verzweiflung?

»Dieser Zionismus war eine Reaktion auf die antisemitische Diskriminierung überall in Europa«: Michael Brenner.

»Dieser Zionismus war eine Reaktion auf die antisemitische Diskriminierung überall in Europa«: Michael Brenner.

Foto: Stephan Rumpf

Brenner: Weil er aus der Not geboren ist. Dieser Zionismus war eine Reaktion auf die antisemitische Diskriminierung überall in Europa. Ohne Antisemitismus wäre Herzl nie Zionist geworden.

SPIEGEL: Aber dieser Zionismus war nicht der einzige.

Brenner: Nein. Vor allem in Osteuropa gab es einen Zionismus, der sich aus einer anderen Quelle speiste. Er kam aus dem Gefühl heraus, dass die jüdische Kultur nur bewahrt werden könne, wenn sie ihr altes Zentrum – das Land Israel – wiederbelebt. Genau wie die hebräische Sprache. Was Herzl alles gar nicht wollte. Diese Bewegung hin ins alte Zentrum des Judentums, so die Vorstellung, würde auch die Diaspora neu beleben. Das nenne ich den Zionismus der Begeisterung.

SPIEGEL: Sie verorten die Verzweiflung im Westen und die Begeisterung im Osten. Warum? Die Situation der jüdischen Gemeinden in Osteuropa war doch sehr viel verzweifelter als im Westen. Immer wieder kam es zu Pogromen.

»Ein Mythos, den man häufig in der Literatur findet: dass die Zionisten sich ein Land ohne Volk vorgestellt hätten – für ein Volk ohne Land.«

Brenner: Tatsächlich trugen die Pogrome, die es in Russland immer wieder gab, dazu bei, dass Herzl seine Anhänger vor allem dort fand. Und umgekehrt gab es im Westen eine ganze Reihe von Zionisten, die sich eher als Kulturzionisten verstanden: Martin Buber wäre das bekannteste Beispiel. Für den ging es um die Renaissance jüdischer Kultur – und um den Kampf gegen Assimilation, die ja im Westen viel weiter fortgeschritten war als in Russland. Und in Osteuropa stand für die meisten Juden außer Frage, Teil des jüdischen Volkes zu sein. Sie kannten Hebräisch als Sprache der Religion und hatten auch im Alltag ihre eigene Sprache: das Jiddische.

SPIEGEL: Gibt es eine einfache Chronologie des Zionismus?

Brenner: Nach der Ermordung des Zaren Alexander II. 1881 kam es zu blutigen Pogromen in Russland und zu einer großen jüdischen Auswanderungswelle in die USA – sowie einer kleinen nach Palästina. Das ist noch vor Theodor Herzl. Der nächste Schritt ist 1896 die Veröffentlichung von Herzls »Judenstaat«. 1897 rief Herzl dann den ersten Zionistenkongress ein. Der sollte eigentlich in München stattfinden, aber die dortige jüdische Gemeinde und der Deutsche Rabbiner-Verband lehnten das ab. Sie sagten, sie seien deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens, sie wollten keinen jüdischen Staat. Schon gar nicht in der Wüste. Also fand der Kongress dann in der Schweiz statt.

SPIEGEL: Herzl starb 1904.

»Die Münchner Jüdische Gemeinde sagte, sie seien deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens, sie wollten keinen jüdischen Staat. Schon gar nicht in der Wüste«: Herzl bei einem zionistischen Kongress 1903 in Basel

»Die Münchner Jüdische Gemeinde sagte, sie seien deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens, sie wollten keinen jüdischen Staat. Schon gar nicht in der Wüste«: Herzl bei einem zionistischen Kongress 1903 in Basel

Foto: United Archives International / IMAGO

Brenner: Da sah es dann erst mal gar nicht gut aus für die Zionisten, es gab nämlich keine andere charismatische Führungsfigur. Bis Chaim Weizmann auftauchte, ein russischer Jude, der in England lebte.

SPIEGEL: Der die britische Regierung 1917 dazu brachte, die sogenannte Balfour-Erklärung abzugeben.

Brenner: Die Regierung erkannte darin an, dass die Juden ein Recht auf eine »nationale Heimstätte« in Palästina haben. Was das genau bedeutete, war allerdings völlig offen. Die Briten hatten zu dem Zeitpunkt noch gar keine Hoheit über dieses Land, das war ja Teil des Osmanischen Reichs.

SPIEGEL: Was sich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs änderte.

Brenner: Den Briten wurde das Mandatsgebiet zugesprochen – und das Wort Palästina tauchte zum ersten Mal auf einer Landkarte auf.

SPIEGEL: Wie stellten sich die Zionisten Palästina vor? Als leeres Land?

Brenner: Das ist ein Mythos, den man sehr häufig in der Literatur findet: dass die Zionisten sich ein Land ohne Volk vorgestellt hätten – für ein Volk ohne Land. Das hat Herzl aber nie gesagt. Herzl ist nach Palästina gereist, er wusste, wie es dort ist. Er hatte allerdings diese europäische Auffassung: Wir bringen die Zivilisation in den Nahen Osten. Und er glaubte, die Zionisten würden dort mit offenen Armen empfangen werden. Andere sahen das anders. In den Zwanzigern wurde die sozialistische Bewegung im Zionismus zur dominanten Strömung. Die jüdischen Sozialisten nahmen deutlich wahr, dass man einen Weg des Miteinanders finden muss.

SPIEGEL: Die Zionisten wollten einen neuen Menschen erschaffen. Man wollte weg vom alten Bild des Juden. Eine andere Sprache sollte geschaffen werden, ein anderes Land, ein anderer Körper.

Brenner: Die Ablehnung der Diaspora oder des Exils stehen am Anfang des Zionismus. Man muss sich klarmachen, dass der Zionismus – auch wenn er eine moderne politische Bewegung des späten 19. Jahrhunderts ist – auf religiösen Vorstellungen beruht. Seit der Vertreibung aus dem Land Israel im 1. und 2. Jahrhundert glaubte man, dass es eine Rückkehr geben werde. Die Juden beten bis heute mehrmals täglich, dass sie nach Zion zurückkehren werden. Das ist Israel. Diese Idee ist sehr alt. Der Zionismus wollte aber auch eine Revolte. Nämlich gegen die jüdische Geschichte der letzten zweitausend Jahre. Diese wurde als Geschichte der Unterdrückung und der fehlenden politischen Souveränität verstanden. Man war abhängig von anderen Herrschern, hatte keine Macht, kein Militär, konnte sich nicht wehren, wenn man angegriffen wurde. Mit dieser Mentalität sollte es vorbei sein.

SPIEGEL: Der Schriftsteller Max Nordau sprach vom »Muskeljudentum«.

Brenner: Die Zionisten gründeten Sportklubs, die sie nach den heldenhaften Makkabäern benannten. In Palästina wurden dann auch die paramilitärischen Einheiten aufgestellt, um sich zu schützen und die Unabhängigkeit durchzusetzen.

SPIEGEL: Was hat es mit dem Kibbuz auf sich? Was sahen die Zionisten in der Landarbeit?

Brenner: Juden waren in Europa jahrhundertelang von bestimmten Berufen ausgeschlossen gewesen, konnten keine Bauern sein. Das sollte umgedreht werden. Mit der Hand den Boden zu bearbeiten, war das neue Ideal, eine Boden-Romantik. Hinzu kam eine Vermischung von zionistischen und sozialistischen Ideen. Kibbuzim waren landwirtschaftliche Kollektive.

»Mit der Hand den Boden zu bearbeiten, war das neue Ideal, eine Boden-Romantik«: Kibbuz Givat Haschlova 1925

»Mit der Hand den Boden zu bearbeiten, war das neue Ideal, eine Boden-Romantik«: Kibbuz Givat Haschlova 1925

Foto: brandstaetter images / Imagno / Getty Images

SPIEGEL: Was ist mit der Sprache? Das alte Hebräisch, eine heilige Sprache, wurde grundlegend erneuert und zu einer lebenden Sprache gemacht.

Brenner: Die meisten osteuropäischen Juden sprachen schon Hebräisch. Sie benutzten es aber nur im sakralen Kontext. Es war nicht wie Latein in Europa, eine Elitensprache. Hebräisch war verbreitet. Aber ja, seine Modernisierung war ein großes Unterfangen.

SPIEGEL: Wie stellte sich das diese Bewegung, die einen Nationalstaat gründen wollte, eigentlich vor? Der Idealismus dürfte doch recht schnell am Ende gewesen sein, es gab ja große Widerstände.

Brenner: Herzl war da sehr naiv. Er dachte, wir stellen Wachen vor die jüdischen Siedlungen, und das reicht. So war es natürlich nicht. Es gab Zusammenstöße schon vor dem Ersten Weltkrieg und erst recht danach: 1920/21 in Jaffa und in Jerusalem und dann vor allem 1929 in Hebron, wo die gesamte Gemeinde zerstört wurde, die jahrhundertelang existiert hatte.

SPIEGEL: Umgekehrt gab es auch Angriffe von Zionisten auf Araber.

Brenner: Es gab vor allem ihre Verdrängung aus bestimmten Landstrichen durch Landkäufe. Das war ein Kreislauf, der immer erhitzter wurde, je stärker der Antisemitismus in Europa wurde, je mehr Menschen einwanderten. Anfang der Zwanziger schränkten die USA die Möglichkeiten zur Einwanderung ein. Das bedeutete, dass nach 1933 auch Nichtzionisten verstärkt nach Palästina wollten.

SPIEGEL: Wie standen die Briten zur zionistischen Bewegung?

Brenner: Unklar. Zum einen hatten sie das Versprechen abgegeben, eine »nationale Heimstätte« für die Juden zu schaffen, was von den Zionisten als Perspektive auf jüdische Souveränität verstanden wurde. Zum anderen schränkten sie aber ab Mitte der Dreißigerjahre die jüdische Einwanderung ein – als die Nazis in Deutschland schon an der Macht waren und die Immigration Leben retten konnte.

SPIEGEL: Wie wichtig ist der Mord an den europäischen Juden durch die Nazis für die Entstehung des Staates Israel?

Brenner: Niemand weiß, ob es Israel ohne den Holocaust gegeben hätte. Was man sagen kann: Der Zionismus war 1933 schon sehr gut aufgestellt. Es gab die Balfour-Erklärung, es gab eine starke jüdische Präsenz im Mandatsgebiet, und es gab Tel Aviv und die hebräisch sprechende kulturelle und politische Infrastruktur. Dazu kommen die Kibbuzim und die paramilitärische Bewegung, die Haganah. Das sind im Grunde staatliche Strukturen – nur noch ohne Staat. Der Holocaust hat dann nach dem Krieg das Weltgewissen aktiviert, sodass die Uno 1947 für die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat votierte.

»Es gab eine starke jüdische Präsenz im Mandatsgebiet, es gab Tel Aviv und die hebräisch sprechende kulturelle und politische Infrastruktur«: Tel Aviv 1920

»Es gab eine starke jüdische Präsenz im Mandatsgebiet, es gab Tel Aviv und die hebräisch sprechende kulturelle und politische Infrastruktur«: Tel Aviv 1920

Foto: Sepia Times / Universal Images Group / Getty Images
»Was hält sie alle zusammen? Wohl nicht eine Ideologie, sondern der Wunsch, in Frieden leben zu wollen«: Tel Aviv heute

»Was hält sie alle zusammen? Wohl nicht eine Ideologie, sondern der Wunsch, in Frieden leben zu wollen«: Tel Aviv heute

Foto: PhotoStock-Israel / Image Source / Getty Images

SPIEGEL: Was für Vorstellungen von einem Staat gab es denn in der zionistischen Bewegung, als klar wurde, dass dieser Staat eine echte Möglichkeit ist?

Brenner: Grundsätzlich standen sich zwei Konzepte gegenüber: Das des jüdischen Staats, das sich schließlich durchsetzte, und das einer binationalen Konfiguration – die aber nur von einer kleinen intellektuellen Minderheit bevorzugt wurde, vor allem von deutschsprachigen Zionisten. Entscheidend dürfte vor allem gewesen sein: Es gab auf der arabischen Seite kein Gegenüber, das sich den Zionisten als Partner eines gemeinsamen Staates angeboten hätte.

SPIEGEL: Was bedeutete die Gründung Israels für den Zionismus? Der Traum vom jüdischen Staat war nun wahr geworden.

Brenner: Es gibt Stimmen, die sagen, der Zionismus habe nach 1948 einfach eine andere Funktion bekommen: Alle Juden nach Israel holen etwa, oder die Sicherung der Existenz des Staates. Seit dem Sechstagekrieg 1967 könnte man von einer allmählichen Bewegung zur Rechten in Israel sprechen – die auch den Zionismus verändert hat. Die Ideale der Vierziger-, Fünfziger- und Sechzigerjahre, die stark sozialistisch geprägt und mit kollektivistischen Werten verbunden waren, verloren an Kraft.

SPIEGEL: Was trat an ihre Stelle?

Brenner: Seit den Siebzigerjahren steigt ein neues Ideal auf: ein Nationalismus, der mit der Siedlerbewegung in den 1967 besetzten Gebieten zu tun hat. Und es gibt die enorme Zunahme des religiösen Teils der Bevölkerung.

SPIEGEL: Wobei das Verhältnis der sogenannten Orthodoxen zum Zionismus kompliziert ist.

Brenner: Der Zionismus ist am Anfang eine säkulare Bewegung – die sich aber auch auf religiöse Elemente bezog. David Ben-Gurion,…

SPIEGEL: …der Staatsgründer,…

Brenner: … war ein sozialistisch-säkular denkender Mensch. Aber er liebte die Bibel. Er sah in ihr auch ein Geschichtsbuch – aus dem man eine historische Begründung des Staates Israel ableiten könne. So steht es auch in der israelischen Unabhängigkeitserklärung, die den Staat auch aus der biblischen Geschichte heraus legitimiert. Diese Verbindung zur Religion war also immer schon da.

»Viele Orthodoxe glauben, dass es keinen Staat Israel geben kann, solange der Messias nicht gekommen ist.«

SPIEGEL: Was ist das Problem der Orthodoxen mit Israel?

Brenner: Vereinfacht gesagt: Es kann keinen Staat Israel geben, solange der Messias nicht gekommen ist.

SPIEGEL: Der säkulare Staat greift dem göttlichen Geschehen vor, deshalb wird er abgelehnt?

Brenner: Ja. Und der Staat, der dann käme, würde natürlich nicht von einem Säkularen wie Herzl gegründet – sondern er müsste göttlichen Geboten folgen.

SPIEGEL: Glauben die Orthodoxen das immer noch?

Brenner: Die sogenannten National-Religiösen, unter ihnen viele Siedler, sind längst zu Trägern ihrer eigenen Version des Zionismus geworden. Unter den Ultraorthodoxen dagegen gibt es eine kleine Minderheit, die den Staat bis heute radikal ablehnt und am Unabhängigkeitstag die israelische Fahne verbrennt. Aber die große Mehrzahl, würde ich sagen, hat sich heute mit dem Staat arrangiert. Sie wissen, dass er ihnen die religiöse Erziehung garantiert, was ihnen am allerwichtigsten ist. Und ihnen – vor allem die rechten Regierungen – alle möglichen Gelder zur Verfügung stellt.

SPIEGEL: Die israelische Gesellschaft ist heute sehr divers. Hält der Zionismus sie zusammen?

Brenner: Zu den jüdischen Einwanderern aus Europa, aus den arabischen Ländern, aus Äthiopien und aus der Sowjetunion sowie ihren Nachfahren kommen etwa 20 Prozent arabische Israelis. Es gibt religiöse und säkulare Juden, Muslime und Christen. Was hält sie alle zusammen? Wohl nicht eine Ideologie, sondern der Wunsch, in Frieden leben zu wollen. Was wäre der Minimalkonsens in Deutschland?

SPIEGEL: Es war einmal die Fußballnationalmannschaft.

Brenner: Das funktioniert in Israel, da spielen jüdische und arabische Spieler zusammen.

SPIEGEL: Sie erwähnten gerade die Siedler. Könnten Sie skizzieren, wie deren Verhältnis zu Zionismus aussieht?

»In ihrem Selbstverständnis sehen sie sich als Pioniere, als eine zionistische Avantgarde«: Siedler in der Westbank 2022

»In ihrem Selbstverständnis sehen sie sich als Pioniere, als eine zionistische Avantgarde«: Siedler in der Westbank 2022

Foto: Ariel Schalit / AP
»Diese Leute wollen sich den Zionismus nicht von rechts wegnehmen lassen«: Demonstrationen gegen die Regierung Netanyahu 2023

»Diese Leute wollen sich den Zionismus nicht von rechts wegnehmen lassen«: Demonstrationen gegen die Regierung Netanyahu 2023

Foto: Eyal Warshavsky / SOPA Images; SOPA Images / LightRocket / Getty Images

Brenner: In ihrem Selbstverständnis sehen sie sich als Pioniere, als eine zionistische Avantgarde, so wie es die Kibbuzim in der Vergangenheit waren. Wenn man genau hinschaut, gibt es natürlich Unterschiede. Der Kibbuzbewegung – auch wenn man sie nicht idealisieren sollte – ging es immer um das Zusammenleben mit der arabischen Bevölkerung. Zumindest in der Theorie. Das ist bei den Siedlern anders. Der Staat ist ihnen weniger wichtig als das Land. Für einen Teil der Israelis sind die Siedler ein Krebsgeschwür, für die anderen verkörpern sie das zionistische Ideal – auch wenn ich glaube, dass sich Ben-Gurion im Grabe umdrehen würde, wenn er das hört.

SPIEGEL: Würden Sie sagen, dass der Zionismus heute vor allem auf der Rechten zu Hause ist?

Brenner: Da muss man sehr vorsichtig sein. Vor dem Massaker vom 7. Oktober gab es jede Woche riesige Demonstrationen gegen die rechte Regierung. Was war das Symbol, mit dem Hunderttausende auf die Straße gegangen sind? Die Israelfahne.

SPIEGEL: Das heißt, dass es neben dem rechten auch immer noch einen liberalen Zionismus gibt?

Brenner: Absolut. Er mag gerade nicht in der Mehrheit sein, aber die Minderheit ist groß und laut. Diese Leute wollen sich den Zionismus nicht von rechts wegnehmen lassen. Aber die Diskussion, die da geführt wird, geht nicht um alte Ideen. Es ist die Diskussion um die Zukunft: Welchen Staat wollen wir?

SPIEGEL: Außerhalb Israels ist »Zionismus« heute vor allem ein Schimpfwort.

Brenner: In der arabischen Welt war das immer so. Auf der Linken ist es komplizierter: Die Sowjetunion unterstützte Israel zunächst – und wendete sich erst ab, als klar wurde, dass das Land sich dem Westen zuneigt.

SPIEGEL: Die westdeutsche Linke war bis 1967 zu großen Teilen proisraelisch.

»Nach der Niederlage waren die Araber auf einmal der David, der gegen Goliath kämpft«: Israelische Truppen im Sechstagekrieg 1967.

»Nach der Niederlage waren die Araber auf einmal der David, der gegen Goliath kämpft«: Israelische Truppen im Sechstagekrieg 1967.

Foto: Getty Images

Brenner: Das änderte sich dann aber sehr schnell. Nach der Niederlage waren die Araber auf einmal der David, der gegen Goliath kämpft. Und das gilt nicht nur für die radikale Linke – einige Terroristen der RAF wurden in palästinensischen Lagern ausgebildet –, sondern auch für die gemäßigte. Einer der wichtigsten Unterstützer der Palästinenser in Europa damals war Bruno Kreisky in Österreich, ein jüdischer Sozialdemokrat. Im Nachhinein würde ich sagen, diese antizionistische Welle hatte damals ihren Höhepunkt – 1975 gab es sogar eine Uno-Resolution, die den Zionismus als Rassismus brandmarkte und die 1991 zurückgenommen wurde, was nicht häufig passiert.

SPIEGEL: Wie ist es heute?

Brenner: Seit dem Scheitern des Friedensprozesses in den Neunzigern und dem Rechtsruck, der folgte, sehen wir wieder einen Anstieg des Antizionismus.

SPIEGEL: Der schärfste Einwand, der auf der Linken heute gegen den Zionismus vorgebracht wird, ist der des sogenannten Siedlerkolonialismus. Israel sei ein koloniales Projekt, heißt es da, ein Nachzügler der europäischen Eroberungen. Und deshalb illegitim.

»Es gäbe mehr gute Argumente dafür, New York den Native Americans zurückzugeben, als Israel den Arabern.«

Brenner: Selbstverständlich waren die frühen Zionisten Kinder ihrer Zeit – das war die Ära der Kolonien. Sie glaubten, dass Europa überlegen sei. Aber sie waren natürlich keine Kolonialisten, wenn man sie mit den britischen, den französischen oder den deutschen Kolonialherren vergleicht. Es wäre ahistorisch zu behaupten, dass sie keine Beziehung zum Land gehabt hätten. Es gibt seit Jahrtausenden kontinuierlich jüdische Gemeinschaften in diesem Land. Das ist ein viel engerer Bezug als ihn die Leute hatten, die auf der »Mayflower« nach Amerika auswanderten. Es gäbe mehr gute Argumente dafür, New York den Native Americans zurückzugeben, als Israel den Arabern. Da ist viel Heuchelei im Spiel. Die Tragödie ist, dass zwei Gruppen von Menschen Anspruch auf dasselbe Land erheben – und beide zu Recht. Das macht den Konflikt so schwierig.

SPIEGEL: Sie meinen, da werden Begriffe aus einem westlichen Kontext übertragen, die nicht passen?

Brenner: Das gilt für die ganze jüdische Geschichte. Was sind die Juden? Für manche sind sie ein Volk. Für andere eine Religion. Noch mal andere glauben, das Jüdische wäre eine Kultur. Oder doch eine verfolgte Minderheit? Juden passen nicht in diese Begrifflichkeiten. Wer von den Israelis als »White Colonial Settlers« spricht, fragt in Wirklichkeit: Warum gehen die nicht zurück nach Europa?

SPIEGEL: Ihre Antwort?

Brenner: Das wurde ein paar Jahrhunderte probiert, und spätestens nach dem Holocaust muss man sagen, es lief nicht wirklich gut. Dazu kommt: Die Hälfte der Israelis kann gar nicht nach Europa zurück. Sie kommen aus Ägypten oder dem Irak oder Syrien, Länder, aus denen sie vertrieben wurden.

SPIEGEL: Herr Brenner, wir danken Ihnen für das Gespräch.